Flugzeuge und Schiffe tun es längst: sie fahren per Autopilot ohne menschliches Zutun. Nicht mehr lange und dann wird es auch im Auto Realität. Unter dem Stichwort Autonomes Fahren buhlen die Hersteller um die Entwicklungshoheit und tüfteln bereits seit Jahren an wirklichkeitsnahen Lösungen. Jetzt ist Ford in die Offensive gegangen und macht mit seiner „Blue-Cruise“-Funktion teilautonomes Fahren gemäß Level 2+ in Deutschland möglich. Motto: Einfach mal die Hände vom Lenker lassen und sich hierzulande über die Autobahnen kutschieren lassen. Der Autor durfte es schon mal ausprobieren. Sein Fazit: „Es ist großartig und gruselig zugleich!“
Gerade für die Boomer-Jahrgänge um die 1960iger Jahre herum, hatte ein fahrbarer Untersatz die größtmögliche Priorität überhaupt, und die Anmeldung zum Führerschein war pünktlich zum 18. Geburtstag ein absolutes Muss. Hinter dem Lenkrad konnte die Freiheit schließlich grenzenlos sein. Allenfalls Aliens traute man selbststeuernde Fahrzeuge zu, im damaligen Science-Fiction-Sprech auch fliegende Untertassen genannt. Und heute? Alles anders! Während uns noch die Videotelefonie aus „Raumschiff Enterprise“ nachhaltig beeindruckte, lächelt die Generation Z darüber nur noch digitalweise amüsiert-gequält ins Handy-Display. Relativ gelassen dürften die Smartphone-Jünger auch die neuste Errungenschaft aus dem Hause Ford zur Kenntnis nehmen: die sogenannte „Blue-Cruise-Technologie“.
Dabei handelt es sich um den nächsten Schritt in Richtung moderner Fahrer-Assistenzsysteme und automatisiertes Fahren. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. „Wir freuen uns sehr, dass wir unseren Kunden diese innovative Technologie nun auch in Deutschland anbieten können, nachdem wir im April 2023 bereits in Großbritannien der erste Hersteller in Europa mit einem System dieser Art waren“, frohlockt Martin Sander. Und der Geschäftsführer von Ford Model e Europa weiter: „Ford Blue Cruise erreicht in puncto Komfort für den Autofahrer eine neue Dimension: Es kann anstrengende Reisen auf Autobahnen stark vereinfachen, denn es unterstützt den Fahrer auf intelligente, vielfach erprobte und vor allem sichere Weise – für ein deutlich entspannteres Erreichen des Zielorts.“
KBA hat Genehmigung erteilt
Man sitzt hinterm Steuer und lässt die Hände also einfach mal weg. Nicht nur das es extrem viel Überwindung und einen gehörigen Vertrauensvorschuss benötigt, es widerspricht auch allem intuitiv und empirisch angeeignetem Sicherheitsempfinden. Mir fällt dabei sofort ein alter Fahrradfahrerwitz ein: „Guckt mal einhändig. Guckt mal freihändig …“ – und rumms schon bremst der übermütige Radler mit der Kauleiste. Beide Hände vom Lenkrad zunehmen war bisher erst recht im Auto keine gute Idee. Mit „Blue Cruise“ ist es bald möglich. Denn: Ford hat jetzt vom Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) die Freigabe zur Nutzung der Technik in Deutschland erhalten. Mit ihr dürfen Autofahrer auf bestimmten, Blue Zones genannten Abschnitten zahlreicher Bundesautobahnen, die das System erkennt, die Hände vom Lenkrad nehmen und sich vom Ford selbstständig durch den Verkehr steuern lassen.
„Das ist auf ca. 95 Prozent aller deutschen Autobahnkilometer möglich“, sagt Ford-Manager und Technikexperte Torsten Wey. Und der Leiter Advanced Driver Assistance Systems bei Ford Europa weiter: „In Tunneln und Baustellen sowie sehr kurvenreichen Parts schaltet Blue Cruise automatisch ab.“ Deshalb gehört auch zur Wahrheit: Die neue Ford-Technik erfordert nach wie vor die volle Aufmerksamkeit des Fahrers, der damit auch im aktivierten Zustand weiterhin dem Verkehr voll und ganz folgen muss. Denn „Blue Cruise“ kombiniert und verknüpft verschiedene elektronische Helfer wie beispielsweise den adaptiven Tempomaten sowie Spurhalte- und Spurführungsassistent clever miteinander. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wichtig dabei: Die Verantwortung bleibt durchgängig beim Fahrer! Schlafen, Filme gucken oder Whatsappen hinterm Steuer dauert also noch ein wenig.
95 Prozent der deutschen Autobahnen im „Blue-Cruise“-Modus befahrbar
Und so funktioniert „Blue Cruise“: Über Sensoren wie die nach vorne gerichtete Frontkamera erfasst die Technik Fahrbahnmarkierungen, Geschwindigkeitsbegrenzungen und sich verändernde Verkehrsbedingungen. Auf dieser Basis regelt das Assistenzsystem Lenkung, Beschleunigung, Bremsen und die Positionierung des Wagens in der eigenen Fahrspur. Dabei hält es je nach Geschwindigkeit den angemessenen Abstand zu vorausfahrenden Verkehrsteilnehmern ein – bis hin zum Anhalten und Anfahren im Stopp-and-go-Verkehr.
In den USA und Kanada haben schon mehr als 194.000 Fahrzeuge der Marken Ford und Lincoln über 175 Millionen Kilometer im „Blue-Cruise“-Modus zurückgelegt. Bereits 2021 ging das System dort auch in Serie. In Europa hat Ford die jüngste Generation fortschrittlicher Fahrerassistenzsysteme wie „Blue Cruise“ sowie die zugehörigen Funktionen über weitere 160.000 Kilometer im öffentlichen Straßenverkehr getestet. Wey: „Validierungsfahrten in Großbritannien bestätigten, dass die Assistenzsysteme auch mit schwierigen Bedingungen – etwa bei abgenutzten Fahrbahnmarkierungen, schlechtem Wetter und mit Baustellen – umgehen können.“
Technik in USA bereits seit 2021 Serie
Und wie war der Praxistest? Wie schon eingangs geschrieben: großartig und gruselig zugleich. Die Fahrt im Mustang Mach E, dieses Modell wird in wenigen Wochen als erster Ford in Europa mit der neuen Technik erhältlich sein, war beeindruckend. Beim Test auf einem Autobahnabschnitt bei Köln ist alles dabei, was das Autofahrerherz nervt und oder begehrt. Freie Strecke, viel Verkehr, Stopp & Go und natürlich auch ein ordentlicher Stau. Alles meisterte der Elektro-Mustang zuverlässig – auch ohne meine Hände am Lenkrad. „Blue Cruise“ wird über den Tempomat per Knopfdruck aktiviert und die Blaufärbung im Instrumenten-Display signalisiert dann das Okay.
Nach kurzer Eingewöhnung ist das Vertrauen da. Schaue ich länger nicht auf den Verkehr, meldet sich das System. Die hinter dem Steuer platzierte Infrarotkamera registriert unmittelbar meine mangelhafte Aufmerksamkeit. Zuerst mit einem leisen, dann einem immer penetranter werdenden Warnton. Ignoriere ich weiter, geht der Mustang von sich aus sanfte auf die Bremse. Auch das nervenraubende Anfahren und Abstoppen im Stau übernimmt der Ford zuverlässig, während der Fahrer sich dabei stressfrei Fahrbrot und einen kräftigen Schluck Kaffee reinziehen kann. Beim Spurwechsel und ab Tempo 130 ist dann wieder der Fahrer gefragt. Auch das Bilden einer Rettungsgasse ist noch ausbaufähig. Da agiert das System noch etwas zaghaft, weil sich der Ford innerhalb der Fahrbahnmarkierungen zu bewegen hat. Gleichwohl liefert ein Rettungsgassenhinweis im Display dem Fahrer die notwendige Info.
Nach kurzer Eingewöhnung ist das Vertrauen da
Fazit: Es ist zwar (noch) nicht alles Gold, was glänzt, aber die neue Ford-Technik zeigt, wohin die Reise geht. Gerade auf langen Autobahnfahrten kann „Blue Cruise“ gewiss für etwas Entspannung sorgen, insbesondere dann, wenn der Verkehr zäher und zäher wird. Für den Mustang Mach E wird die Option „Blue Cruise“ in wenigen Wochen bestellbar sein. Ob und wann in weiteren Markenmodellen und vor allem zu welchem Preis, hat Ford indes noch nicht verraten.